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Sage "Der Untergang von Täsch"

Im Vispertal, zwischen Randa und dem weltberühmten Zermatt, liegt das Dörfchen Täsch. Unweit der kleinen Ortschaft führt der Weg durch eine Wildnis von grossen Blöcken, die mit Moosen, Brom­beerstauden und andern Schlingpflanzen überwuchert sind. Wer sich die Steinwildnis etwas näher besieht, merkt, dass die Massen von der Felswand über der Schräghalde heruntergestürzt sind, aber kein Mensch ahnt, dass unter diesen Trümmern das alte Dorf Täsch begraben liegt. In heiligen Zeiten hören Quatemberkinder das Glöck­lein der zertrümmerten Kirche, das gerade tönt wie das Summen eines Brummels, der über Blütensterne dahinfliegt.

Zu der Zeit, als das Dörfchen noch stand, trat ein ärmlich ge­kleideter Mann mit einem schönen blonden Vollbart zu der reich­sten Bäuerin, die eben in einem grossen Kessel Kartoffeln sott. Das Hemd des Mannes war über der Brust geöffnet, und ein schwarzer Schlapphut beschattete das hagere Antlitz. Er bat die Bäuerin, sie möchte ihm von ihrem Überfluss ein Almosen geben, bei allen Häu­sern sei er abgewiesen worden, und er hätte den ganzen Tag nichts gegessen und spüre den grössten Hunger. Die Bäuerin machte ein böses Gesicht, streckte den Arm zur Abwehr aus und schüttelte die Rechte. Sie sei nicht gewohnt, Bettler und Faulenzer zu Tische zu laden, er könne arbeiten und sich sein Brot selbst verdienen. Damit schlug sie die Tür zu. Da richtete sich der Bettler auf und sagte: «O du unverständiges Weib! Hättest du mir das Almosen gewährt, so wäre in deine Speisen so viel Segen gekommen, dass du immer satt geworden wärest. Da du so geizig und hartherzig bist, so sollst du samt deinem Dorfe verflucht und vermaledeit sein!» Damit ging er weg und lenkte seine Schritte zu der letzten Hütte des Dorfes. Es war ein vor Alter schwarz gewordenes Holzhaus mit zwei er­blindeten Fensterchen. Die reiche Frau sah ihm durchs Fenster nach und lachte: «Dort soll er nur anklopfen, die Witwe hat ja selbst nichts zu beissen!» Die arme Witwe aber wies den Fremden nicht ab, sondern sagte: «Ich bin arm und kann Euch nicht viel anbieten, aber wenn ihr ein wenig warten wollt, so hole ich mein Huhn, das draussen auf dem Misthaufen die Kornspreuer zusammensucht und schlachte es!« Der Fremde war damit einverstanden, nahm Platz an dem ärmlichen Tischchen, und die Frau kochte das Huhn und legte es ihm vor. Der Mann dankte sehr und wollte weiterreisen, aber die Frau bat ihn, doch da zu bleiben über die Nacht, denn es ziehe ein Unwetter herauf und bis zum nächsten Dorf sei ein weiter Weg. Wenn er mit ihrem Bette vorlieb nehmen wolle, so solle er es haben, sie finde schon noch ein Plätzchen für sich. Der Fremde dankte wiederum und sagte, er nehme das Bett gerne an, da er heute einen langen Weg zurückgelegt habe und sehr müde sei. Bevor er sich zur Ruhe legte, sagte er zu der Frau, sie werde in der Nacht einen furchtbaren Lärm, Gepolter und Getöse hören, und das Haus werde zittern wie bei einem Erdbeben, aber sie solle sich nur nicht fürchten und kein Licht machen.

Und richtig, in der Nacht hörte sie ein donnerähnliches Krachen, als ob die Welt bersten müsste. Der Berg über dem Dorfe spaltete sich, stürzte nieder und begrub das Dorf mit der Kirche und all seinen Hütten. Am Morgen war keine Spur mehr davon zu sehen, kein Balken und kein Dachbrett; an Stelle der Hütten und Speicher lagen hausgrosse Felsstücke, nur das Häuschen der Witwe stand noch, und sie hörte das Huhn, das sie gestern Abend ihrem Gaste vor­gelegt hatte, auf dem Düngerhaufen gackern. Der Fremde aber war verschwunden.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959